Zum Weltwirbelsäulentag am 16. Oktober richten wir unser Augenmerk auf eine oft verkannte Erkrankung: die Halswirbelsäulen-Stenose. Unbehandelt kann sie zu schweren neurologischen Schäden führen. Der heutige Aktionstag soll dazu beitragen, Betroffene wie auch Ärztinnen und Ärzte für die spezifischen Warnsignale zu sensibilisieren und eine frühere Diagnose zu ermöglichen.

Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigt auch die Zahl der Patientinnen und Patienten, die an einer Stenose der Halswirbelsäule leiden. Diese degenerative Erkrankung entsteht durch Abnutzung der Wirbelsäule, die den Spinalkanal verengt und Druck auf Rückenmark und Nerven ausüben kann. Dies kann Schmerzen, Lähmungen und – unbehandelt – dauerhafte Nerven- und Rückenmarksschäden verursachen. Häufig werden die Symptome jedoch mit normalen Altersbeschwerden verwechselt.

 

Wir haben mit PD Dr. med. Ralph Schär gesprochen. Er ist Leitender Arzt an der Universitätsklinik für Neurochirurgie des Inselspitals Bern. Sein Spezialgebiet ist die chirurgische Behandlung von komplexen Wirbelsäulenerkrankungen.

Herr Dr. Schär, was sind denn typische Symptome einer HWS-Stenose?

«Ein Hauptsymptom ist das unsichere Gangbild – Betroffene gehen oft steif und haben dadurch ein erhöhtes Risiko, zu stürzen und sich zu verletzen. Auch die Blasenfunktion kann betroffen sein, da die dafür zuständigen Nerven durch das zervikale Rückenmark verlaufen. Ein weiteres typisches Symptom sind taube Hände sowie eine Ungeschicklichkeit der Hände.»

Und warum wird die Stenose der Halswirbelsäule oft nicht richtig diagnostiziert?

«Obwohl die Halswirbelsäulen-Stenose eine relativ häufige Erkrankung ist, gerade bei älteren Menschen, wird sie leider oft erst spät diagnostiziert. Die Symptome werden fälschlicherweise als allgemeine Alterserscheinungen abgetan. Bei Beschwerden wie einem unsicheren Gang, Ungeschicklichkeit der Hände oder Blasenfunktionsstörungen mit Inkontinenz heisst es schnell: 'Das gehört eben zum Alter dazu'. Die HWS-Stenose ist auch häufig schmerzlos, was die Diagnose zusätzlich erschwert.

Erst wenn man die Patientin oder den Patienten genauer untersucht und ein MRI veranlasst, wird klar, dass das Rückenmark durch die Stenose in der Halswirbelsäule komprimiert ist. Es ist wirklich erschreckend, wie häufig das vorkommt – dabei lässt sich die HWS-Stenose heute gut operativ behandeln.»

Warum ist es wichtig, die Diagnose früh zu stellen?

«Im Bereich der Halswirbelsäule hat das Rückenmark bei einer Kompression kaum Platz zum Ausweichen, was zu gravierenden Ausfällen führen kann, die sowohl Arme als auch Beine betreffen. Dadurch sind die Schäden deutlich schwerwiegender als bei einer Stenose der Lendenwirbelsäule, und die Lebensqualität der Betroffenen ist entscheidender eingeschränkt.

Wenn die Beschwerden bereits chronisch sind, erholen sich die Nervenschäden im Bereich der Halswirbelsäule oft nur unvollständig. Deshalb ist eine frühzeitige Diagnose und Intervention bei einer HWS-Stenose entscheidend, um die Erkrankung besser kontrollieren zu können.

Neuere internationale Studien, die auf grossen Datenmengen basieren, zeigen zudem, dass sich die Lebensqualität und die Funktionen der Betroffenen nach einer erfolgreichen Operation spürbar verbessern.»

Gibt es auch konservative Behandlungsmöglichkeiten einer HWS-Stenose?

«Sehr eingeschränkt, weil es sich ja um ein mechanisches Problem handelt.»

Diese HWS-Stenose betrifft ja vor allem alte Menschen. Kann man diese Operation überhaupt bis ins hohe Alter durchführen?

«Das Alter spielt in der Regel keine allzu grosse Rolle. Wichtiger sind der allgemeine Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten, bestehende Vorerkrankungen und das Anästhesierisiko. Am Inselspital bieten wir diese Operation auch Betroffenen an, die weit über 80 Jahre alt sind – natürlich abhängig vom individuellen Leidensdruck, der spezifischen Pathologie und der gewählten OP-Technik. Wir sind da sehr proaktiv und gehen gezielt auf die Situation jedes einzelnen Patienten ein.»

Wie wird eine HWS-Stenose operiert?

«Wie so oft gibt es verschiedene Techniken. Die grosse Debatte bei der HWS-Stenose ist, ob man besser von vorne oder von hinten operieren sollte. Das ist allerdings immer eine sehr individuelle Entscheidung, die auf der Anatomie der Patientinnen und Patienten basiert – und natürlich auf der Erfahrung der Chirurgin oder des Chirurgen. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile, und wir wählen den besten Weg, je nach dem, was für die Betroffenen am sinnvollsten ist.»

Welche Komplikationen können bei der OP auftreten?

«Das Komplikationsrisiko ist bei dieser Operation sehr gering. Die meisten Operierten haben vielleicht für ein paar Tage leichte Schluckstörungen oder eine vorübergehende Heiserkeit, die durch den vorderen Zugang verursacht wird. Wenn man von hinten operiert, kann die Wunde etwas schmerzhafter sein. Rückenmarksverletzungen sind jedoch eine absolute Seltenheit bei diesem Eingriff.»

Wie lange dauert der Spitalaufenthalt nach dem Eingriff?

«Der Spitalaufenthalt ist in der Regel recht kurz, besonders bei Patientinnen und Patienten, die von vorne operiert wurden – da reden wir von etwa 3 Tagen. Wenn man von hinten operiert, was zu stärkeren postoperativen Schmerzen führen kann, bleiben die Betroffenen manchmal 1–2 Tage länger. Aber insgesamt ist der Aufenthalt meist kurz.»

Schliesst sich an den Spitalaufenthalt eine Reha an?

«Es kommt darauf an, wie stark die Patientinnen und Patienten vor der Operation eingeschränkt waren. Wenn bereits Lähmungserscheinungen vorlagen, empfehlen wir in der Regel eine stationäre Rehabilitation nach der OP. Ansonsten können die Meisten direkt nach Hause und benötigen nur eine ambulante Physiotherapie, was in der Mehrheit der Fälle ausreicht.»

Bei der HWS-Stenose handelt es sich ja um Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Beschwerden an anderer Stelle wieder auftreten?

«Das ist eine gute Frage und wird schon seit langem intensiv diskutiert. Man spricht dabei von der sogenannten Anschlussdegeneration. Wenn wir bei einer Operation zum Beispiel 2 oder 3 benachbarte Halswirbel versteifen, erhöht sich die Belastung auf die angrenzenden, noch beweglichen Segmente. Diese können sich dann schneller abnutzen. Schätzungen zufolge betrifft diese symptomatische Anschlussdegeneration etwa 3 % der operierten Fälle pro Jahr, oder etwa jede 4. Person nach 10 Jahren.»

Gibt es denn präventive Massnahmen, eine Stenose zu verhindern?

«Ein grosser Faktor ist leider die genetische Veranlagung – Stenosen treten oft familiär gehäuft auf, und das können wir natürlich nicht beeinflussen. Die beeinflussbaren Faktoren sind aber ein gesunder Lebensstil, besonders der Verzicht auf Nikotin. Das ist in der Wirbelsäulenchirurgie extrem wichtig, weil Rauchen die Knochenqualität verschlechtert und die Durchblutung des Rückenmarks beeinträchtigt. 

Ebenso spielt eine gesunde Haltung eine wichtige Rolle, besonders für Menschen, die viel im Büro am Computer arbeiten. Eine ergonomische Sitzposition, bei der der Monitor auf Augenhöhe steht, ist hier entscheidend. Und das ständige Nach-unten-Schauen auf Handy oder Tablet tut der Halswirbelsäule ebenfalls nicht gut.»

Gibt es bei der HWS-Stenose auch neue Entwicklungen und Forschungsergebnisse?

«Ja, in den letzten Jahren hat sich viel getan. Früher lag der Fokus vor allem auf der Bandscheibenprothese, also auf bewegungserhaltender Chirurgie. Bei Versteifungen der Halswirbel können jetzt minimalinvasiv und mit HIlfe von Navigationssystemen Schrauben eingesetzt werden. Der aktuelle Trend geht jedoch auch in Richtung Robotik. Das ist ein sehr anspruchsvolles Feld, da die Anatomie der Halswirbelsäule kleiner und feiner ist als die der Brust- oder Lendenwirbelsäule, und sich hier viele empfindliche Strukturen wie Gefässe, Rückenmark und Nerven befinden. Daher kommen wir in diesem Bereich noch nicht so schnell voran, wie wir es uns wünschen. Aber es gibt noch viel Potenzial für weitere Entwicklungen.»

 

World Spine Day

Jedes Jahr am 16. Oktober findet der Weltwirbelsäulentag (#worldspineday) statt. Er gilt als grösste internationale Initiative, um auf die zunehmende Belastung durch Wirbelsäulenerkrankungen aufmerksam zu machen. Der Tag bietet eine wichtige Plattform, um Menschen über Möglichkeiten der Vorbeugung und moderne Behandlungsmethoden, wie minimalinvasive Eingriffe, zu informieren. Mit rechtzeitigen Therapien lässt sich die Lebensqualität vieler Betroffener deutlich verbessern.

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