Dreissig Jahre nach der Gründung des renommierten Forschungslabors für restaurative Neurowissenschaften der Universitätsklinik für Neurochirurgie geht sein langjähriger Leiter, Prof. Dr. Hans Rudolf Widmer, in den wohlverdienten Ruhestand. Wir haben ein Interview mit ihm geführt.

Ende Februar ist es so weit. Nach 30 Jahren neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung ändert das Forschungslabor der Neurochirurgischen Universitätsklinik seine bisherige Ausrichtung. Mit der Pensionierung von Prof. Widmer wird der Schwerpunkt der restaurativen Medizin, die nach neuen Therapieansätzen bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer sucht, nicht weiter fortgeführt.

International anerkannte Forschung

Unzählige wissenschaftliche Publikationen, 14 Master- und 28 Doktorarbeiten wurden hier unter Anleitung von Prof. Dr. Hans Rudolf Widmer erstellt, der die Leitung des Labors 1996 übernommen hatte. Der Parkinson-Experte Widmer ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Fachgesellschaften, ein viel gefragter Redner auf internationalen Kongressen, Dozent an der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, Gutachter für nationale und internationale Forschungsprojekte und erhielt 2018 den Bernard Sanberg Memorial Award für seine substantiellen Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung neuer Therapieansätze.

Forschung im Wandel der Zeit

Ursprünglich 1992 von Prof. Dr. Christian Spenger und Prof. Dr. Lorenz Studer als eines der ersten Forschungslabore für Hirnzelltransplantationen bei Morbus Parkinson gegründet, weicht die Grundlagenforschung nun zugunsten der Entwicklung der Robotik für chirurgische Eingriffe, einem neuen translationalen Schwerpunkt der Neurochirurgie, für den zukünftig eine Professur der medizinischen Fakultät geplant ist.

Interview mit Prof. Dr. Hans Rudolf Widmer

Hans Ruedi, du leitest das Forschungslabor seit über 25 Jahren, genauer gesagt seit 1996. War das auch dein Startjahr am Inselspital?

Widmer: Ja, genau. Ich war vorher in der Anatomie der Universität Bern angestellt. Davor war ich Postdoc und Research Fellow in den USA. Ich bin 1993 in die Anatomie nach Bern gekommen mit der Idee, dass ich dort die Neurowissenschaften aufbaue. Aber die Neuro hat dann dort aus verschiedenen Gründen schliessen müssen. Es war dort hochinteressant, ich habe auch sehr viel gelernt, nur war es nicht das Neurogebiet, das mich so interessiert hat. Und deshalb bin ich dann 1996 als Leiter des Forschungslabors der Neurochirurgischen Klinik zum Inselspital gewechselt.

War 1996 dann auch das Gründungsjahr des Forschungslabors?

Widmer: Nein, das Forschungslabor wurde 1992 gegründet. Ende der 1980er Jahre sind die ersten Hirnzelltransplantationen bei Morbus Parkinson gemacht worden. Und mein Vorgänger am Forschungslabor, Prof. Christian Spenger, und sein Kollege Prof. Lorenz Studer wollten das unbedingt auch in Bern durchführen. Und der damalige Direktor der Neurochirurgie Prof. Dr. Rolf Seiler hat dann die Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Und so wurde das Forschungslabor gegründet. Im Februar 2022 existiert das Forschungslabor genau 30 Jahre.

Das Forschungslabor heisst ja Forschungslabor für restorative (oder auch restaurative) Neurowissenschaften. Was heisst das denn genau?

Widmer: Ja, das ist ein ganz spezieller Begriff. Man spricht ja von «restorative medicine» oder auch «regenerative medicine» in den Neurowissenschaften. Das sind nicht so ganz fest definierte Begriffe. Aber es geht grundsätzlich darum, dass man nach neuen Therapieansätzen sucht für neurodegenerative Erkrankungen wie zum Beispiel Parkinson. Die Forschung dreht sich um Wachstumsfaktoren, nervensupportive Substanzen, Hirnzelltransplantationen, endogene Neurogenese, also die Bildung von neuen Nervenzellen im Hirn, die Reparatur von kaputten Nervenzellen oder die Entfernung von Ablagerungen im Hirn. Das ist eigentlich das Gebiet, um das es geht.

Wie viele Mitarbeiter hatte das Forschungslabor?

Widmer: Das war natürlich nicht immer gleich, sondern hing stark auch von den Drittmitteln wie Nationalfonds-Geldern ab. Wir hatten ausserdem eine Zusammenarbeit und einen Austausch mit der Universität Odense in Dänemark und der Universität von Sevilla in Spanien. Deshalb hatten wir oft Doktoranden von diesen Universitäten bei uns. Maximal waren es 10 Leute mit den Doktoranden. Der Grundstock an Personal im Forschungslabor waren der Leiter und ausserdem 2 Laborantinnen und dann eben die wissenschaftlichen Mitarbeiter.

Wenn du jetzt zurückblickst auf deine 25-jährige Tätigkeit im Forschungslabor der Neurochirurgie, was hat dir da am meisten bedeutet? Was waren deine Highlights?

Widmer: Ganz wichtig waren für mich in erster Linie immer die Menschen, denen wir mit unserer Forschung helfen. Aber es gab natürlich auch andere Highlights, auf die ich gerne zurückblicke. Dazu gehören für mich zum Beispiel die Forschungspreise, die wir mit unserer Klinik gewonnen haben, also alle Preise mit Studenten, Travel Awards usw. Die waren auch für mich immer etwas Besonderes. Und für meine Forschung immens wichtig waren natürlich auch die 4 bzw. 6 Nationalfonds, die ich bekommen habe, zweimal als Applicant und viermal als Erster. So ein Grant ist ja immer ein echtes Highlight. Und dann natürlich auch die Preisverleihung von der amerikanischen Gesellschaft für mein Lebenswerk. Was mir auch immer sehr gut gefallen hat, war die Kongressorganisation. Das war wirklich etwas Schönes. Die vielen Leute, die man so zusammenbringen konnte.

Du hast ursprünglich Biologie studiert?

Widmer: Ich habe an der ETH Zürich und an der Uni Zürich Naturwissenschaften studiert, also Biologie und auch Pharmakologie. Ich habe dann mein Diplom als Mittelschul- und Hochschullehrer gemacht. Und die Lehre ist etwas, was ich immer gerne gemacht habe. Ich halte ja auch seit Jahren schon regelmässig Vorlesungen, eigentlich bis heute.

Also zieht sich die Wissensweitergabe wie so ein roter Faden durch deine ganze Biografie?

Widmer: Ja, das ist eigentlich schon so.

Du bist dann als Postdoc nach Kalifornien gegangen. Was es für dich keine Überlegung, in den USA zu bleiben und dort weiter zu forschen? Wolltest du immer zurück in die Schweiz kommen?

Widmer: Nein, eigentlich wollte ich nicht unbedingt zurück in die Schweiz. Ich hatte dort ein Angebot als Research Assistant Professor mit guten Bedingungen und konnte auch gut und viel publizieren. Das Problem war wie so oft die familiäre Situation. Meine Frau ist Apothekerin und konnte in den USA nicht arbeiten. Unser Sohn musste in die Schule. Wir wohnten damals in Los Angeles und die Qualität der öffentlichen Schulen in den USA ist eher schlecht. Privatschulen waren aber unglaublich teuer. Ein wichtiger Grund war aber auch, dass mein Chef, also mein Post-Doktorvater, weg ging in die Industrie. Von ihm war ich sehr stark gefördert worden. Es gab also einen Doppelgrund für die Rückkehr in die Schweiz.

Und du wolltest nicht in die Industrie wechseln? Das wäre doch sicher auch möglich gewesen?

Widmer: Ja. Das Problem war da aber, dass ich kein Amerikaner war und keine Green Card hatte. Ich hatte jede Menge Anfragen von Headhuntern. Und immer wenn sie gehört haben, ich bin Schweizer, war das Interesse schnell weg. Aber grundsätzlich hat der American Way of Life mir und meiner Frau sehr gut gefallen. Los Angeles ist schön. Vor allem auch das Wetter. Und in 2 Stunden waren wir am Meer oder in den Bergen, in der allerschönsten Natur. Landschaftlich war das einfach wunderbar. Und forschungsmässig waren die Bedingungen optimal, sehr stimulierend, ganz anders als in der Schweiz damals. Aber ich dachte mir dann, wenn ich nach Bern wechseln kann und dort die Möglichkeit habe, etwas Neues aufzubauen, ist das auch interessant. Und langfristig ist in den USA die Arbeit in der Forschung wahnsinnig kompetitiv.

Welches Forschungsprojekt hat dich am meisten interessiert?

Widmer: 2009 kam ja Stefano Di Santo zu uns ans Forschungslabor. Er kam mit einem interessanten Thema: Wachstumsfaktoren, die von Stammzellen freigesetzt werden. Er hat dann den Pfizer-Forschungspreis gewonnen, und wir haben zusammen einen Nationalfonds-Antrag geschrieben. Ein Teil bestand aus seiner Forschung, aber wir haben das Ganze auch im Kontext zu Hirnschlag und Parkinson und so erforscht. Das gab einen richtigen Boom und Stefano war ein Pionier auf diesem Gebiet. Man weiss heute, dass wenn man nach einem Hirnschlag Stammzellen transplantiert, sich diese nicht primär differenzieren und die kaputten Zellen ersetzen, sondern vielmehr Substanzen freisetzen, die die eigene Regeneration im Hirn stimulieren. Die Stammzellen aktivieren im Hirn auch das Immunsystem, so dass Makrophagen die kaputten Hirnzellen wegfressen. Unsere Forschungsgebiete haben sich also recht gut ergänzt.

Wie schwer fällt dir jetzt der Abschied vom Inselspital?

Widmer: Ja, ich klammere mich hier ja noch an 20 % (lacht). Nein, es fällt mir natürlich schon sehr schwer. Ich meine, ich war früher jeden Samstag hier im Forschungslabor, vor 12 Uhr am Abend war ich selten daheim. Um halb 12 musste ich immer gehen, sonst hätte ich keinen Zug mehr gehabt. Aber 12-Stunden-Tage oder 60–80 Stunden die Woche waren normal.
Der Abschied vom Forschungslabor fällt mir jetzt insgesamt etwas weniger schwer, denn die zwei Lockdowns durch Covid, vor allem der erste, als wir alle noch nicht geimpft waren und ein paar Monate daheim waren und das Labor schliessen mussten, haben mich schon etwas darauf vorbereitet. In den letzten Wochen haben wir hier jetzt im Labor alles ausgeräumt und vieles weggeworfen. Zum Beispiel Tausende von Schnitten zur grossen Frustration der Laborantin, die 10 Jahre Hirne geschnitten hat. Ja, solche Sachen fallen einem wirklich sehr schwer. Denn man war ja schon irgendwie wie verheiratet mit der Forschung hier am Forschungslabor.

Was hast du dir denn vorgenommen für den Ruhestand? Hast du irgendwelche Pläne?

Widmer: Also für das nächste Jahr habe ich noch keine Angst, dass mir langweilig wird. Es gibt gewisse Sachen, die ich noch abschliessen muss, wie zum Beispiel die Graduate School oder meine Vorlesung. Dann habe ich noch ein paar wenige Doktoranden bis 2023. Ich bin auch noch Präsident der Tierversuchskommission vom Kanton Bern und Kanton Luzern. Das ist sehr interessant, aber auch eine sehr verantwortungsvolle Funktion. Es geht da um alles Mögliche, um Fische, um Mäuse und Ratten, Pferde und Kühe, sogar Lamas, eben Grosstierhaltung. Und das kann man sogar bis 80 machen (lacht). Und das gibt auch viel Arbeit, denn da muss ich noch etwa 60 Gutachten pro Jahr machen für die Gesuche.

Das heisst, du hörst gar nicht auf zu arbeiten, du reduzierst nur deine Stunden?

Widmer: Ja, ich komme dann immer erst am Mittag (lacht). Nein, ich habe auch ein grosses Haus, wo ich immer viel arbeiten und basteln muss. Es ist ein altes Haus, und wir sind direkt vor dem ersten Lockdown dort eingezogen. Meine Frau arbeitet sicher noch bis Ende des Jahres. Mein Sohn will ja immer, dass ich mir einen Hund kaufe. Aber nein, auf den musst du ja immer aufpassen und kannst ihn nicht alleine lassen und nichts mehr unternehmen. Also für einen Hund bin ich noch nicht bereit. Nein, jetzt im Ernst, ich freue mich darauf, mal wieder etwas Anderes zu lesen als immer nur wissenschaftliche Artikel. Vielleicht reisen wir auch etwas. Ich war ja immer viel unterwegs zu den Kongressen. Ich hatte 4 oder 5 internationale Kongresse, zu denen ich 20 Jahre lang immer gereist bin. Ich habe Verwandte in Brasilien, in Südafrika und in Kanada, die ich schon lange nicht mehr besucht habe. Nach Afrika würde ich sehr gerne wieder fahren, nach Kapstadt. Dann haben wir mit der Schwester zusammen eine Alphütte. Und dann gehe ich auch sehr gerne wandern und suche Pflanzen. Meine Frau als Apothekerin kennt natürlich alle Heilpflanzen. Alles in allem würde ich sagen, ich muss mich erstmal etwas erholen. Die vielen Jahre harter Arbeit haben doch ihre Spuren hinterlassen.

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